Andrea Hüsser ist für Nachhaltigkeit der Kakao-Wertschöpfungskette und Co-Gesamtprojektleiterin für das «Schoggifestival ehrundredlich» ANDREA HÜSSER

Der Kakaobaum, hier an der Elfenbeinküste, trägt seine 20–40 farbigen Früchte direkt am Stamm. ANDREA HÜSSER

Kakaopflanzerin Kouadio Akissi aus der Côte d’Ivoire hält ihre fermentiert und getrockneten Kakaobohnen bereit zum Verkauf. ANDREA HÜSSER

Zukunft der Schokolade – Qualität, Geschmackssinn und klare Regeln für die Kakaobranche

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Andrea Hüsser befasst sich seit Jahren mit der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit der Kakao-Wertschöpfungskette. Im Schwerpunktinterview zeigt sie die damit verbundenen Problemstellungen und kreative Praxislösungen auf.

Als Co-Gesamtprojektleiterin ist Andrea Hüsser derzeit mit der erstmaligen Organisation des «Schoggifestival ehrundredlich» engagiert. Die auf Anfang April geplante Erstdurchführung des Schoggifestivals musste bedingt durch die Corona-Krise verschoben werden. Ein Ersatztermin ist derzeit in Planung, und wir werden darüber wieder aktuell berichten.

Das Schoggifestival und die damit verbundene Kampagne stehen unter den Slogans «ehrundredlich». Welche Message stehen dahinter?
Andrea Hüsser: Der Begriff ist Ausdruck dafür, dass die Schoggiwelt verantwortungsvolles Handeln, Achtsamkeit und Genuss miteinander verbinden kann, wenn sie will. Der umgangssprachliche Ausdruck ehr- und redlich beinhaltet für uns verschiedene Werte wie Ehrlichkeit, Transparenz, Offenheit, Gesprächsbereitschaft, Achtsamkeit, Gerechtigkeit, Einhaltung der Spielregeln, gleich lange Spiesse für alle oder Verantwortung. Wir wünschen uns, dass diese Werte in der Schokoladeproduktion und Kakaoverarbeitung respektiert werden. In der Praxis greift die Anwendung dieser Werte bei einem Grossteil der Schoggi, die wir essen, leider nicht. Im Gegenteil: Abholzung, Menschenrechtsverletzungen, Klimawandel und eine unglaubliche Marktkonzentration dominieren die Arbeit rund um den Kakao auch noch fast zwanzig Jahre nach den grossen Versprechen der Industrie zur Besserung. Dazumal unterzeichneten die grössten Repräsentanten der Schokoladeindustrie sowie politische Vertreter ein Abkommen (vgl. Infobox), dessen Ziel es war, bis 2005 die schlimmsten Formen von Kinderarbeit auf den Kakaoplantagen zu beseitigen. Das Ziel wurde bis heute nicht annähernd erreicht und in modifizierter Form fünfmal verschoben – aktuell auf 2025.

Eine weitere programmatische Botschaft lautet «from bean to bar» …
Seit ein paar Jahren gibt es aber in der Schweiz Schoggimacherinnen, Kakaoverarbeiter, Händler, Pioniere, Forscherinnen, Rechercheure und Campaignerinnen, die es anders machen möchten. Diese Kräfte möchten wir in einer neuen ehr- und redlichen Schoggibewegung bündeln. «Bean to Bar», also von der Bohne bis zur Tafel, bedeutet eine ganzheitliche Schokoladeproduktion. Das heisst, dass die Schokoladeherstellerin die fermentierten und getrockneten Kakaobohnen direkt bei der Kakaobauernfamilie einkauft, diese bis zur fertigen Schokoladentafel selbst verarbeitet und dann selbst verpackt. Meistens werden in diesen Tafeln nur die Zutaten Kakaobohnen, Kakaobutter und Zucker verarbeitet. Die hohe Qualität der Tafeln und die unglaubliche Geschmacksvielfalt ist hier absolut zentral. Bean to Bar beinhaltet aber auch die Konnotation, dass die Kakaobohnen eine hohe Qualität aufweisen, fein aromatisiert und vollmundig sowie nachhaltig produziert sind. Wer die Struktur vom heutigen internationalen und industriellen Schokoladenmarkt kennt, versteht, dass all dies nicht selbstverständlich ist. Über 65 % des gesamten Weltkakaos wird von lediglich drei Grosskonzernen eingekauft und komplett automatisiert zu einem einheitlichen Zwischenprodukt, der Kakaomasse, verarbeitet. Nur gerade fünf Prozent des weltweiten Kakaos zählt zum sogenannten Fine Cacao. Der Ausdruck «Bean to Bar» steht, auch wenn nicht rechtlich geschützt, für kleine handwerkliche Schokoladenmanufakturen, die den genauen Herkunftsort, diese direkt beziehen und von der Bohne bis zur Tafel, Regionen spezifisch in kleinen Chargen, also in «small batches» produziert.

Sie stehen kritisch zu den aktuellen Marktverhältnissen im Kakaohandel – was sind die wichtigsten Probleme?
Wertschöpfung und Risiken sind in der Kakaoproduktionskette sehr unausgeglichen verteilt. Momentan ist es so, dass die Kakaobauernfamilien alle Risiken des Marktes tragen, während ihre Einkünfte zu tief sind, als dass sie damit ein Leben in Würde führen könnten. Dazu kommt, dass westafrikanische Kakaobäuerinnen und -bauern ungefähr sechs Prozent des Preises einer Tonne Kakao erhalten, während Verarbeiter, Schokoladeproduzenten und der Detailhandel zusammen fast 80 Prozent des Wertes kassieren. Die Verantwortung und die Kosten für diesen systemischen Fehler übernimmt niemand. Die Wurzeln dieser Probleme stehen meines Erachtens in engem mit der Markt- und Machtkonzentration im Kakaohandel und in der Schokoladeproduktion. Doch das herrschende Oligopol, bestehend aus Produzentenländern, Händlern, Verarbeitern, Schokoladeproduzenten und Konsumländern, hat sich in eine derart vertrackte Situation des Preiskampfs und gleichzeitiger Abhängigkeit hineinmanövriert, als dass es unmöglich erscheint, dass ein Akteur den ersten Schritt wagen könnte und seine Produktionskette komplett umkrempeln würde. Künftige Lösungen sollten auf jeden Fall so ausgerichtet sein, dass Risiko, Belohnung, Macht und Verantwortung entlang der gesamten Produktionskette verteilt werden.Zusammenhang mit der Markt- und Machtkonzentration im Kakaohandelund in der Schokoladeproduktion. Doch das herrschende Oligopol, bestehend aus Produzentenländern, Händlern, Verarbeitern, Schokoladeproduzenten und Konsumländern, hat sich in eine derart vertrackte Situation des Preiskampfs und gleichzeitiger Abhängigkeit hineinmanövriert, als dass es unmöglich erscheint, dass ein Akteur den ersten Schritt wagen könnte und seine Produktionskette komplett umkrempeln würde. Künftige Lösungen sollten auf jeden Fall so ausgerichtet sein, dass Risiko, Belohnung, Macht und Verantwortung entlang der gesamten Produktionskette verteilt werden.

Wie lässt sich dies ändern – und wer sorgt dafür?
Ich denke, es gibt dafür kein Rezept. Transparenz durch die ganze Produktionskette hindurch, die Auseinandersetzung mit und die Anwendung des existenzsichernden Einkommens und der Menschenrechte, aber auch die Achtung der Umwelt,der Arbeit und der Menschen, welche den Kakao herstellen sind für mich Schlüsselelemente für mehr Resilienz im Kakaosektor. Das systematische Scheitern von freiwilligen Initiativen zeigt zudem die Notwendigkeit von gesetzlichen Richtlinien für die Einhaltung von Umwelt- und Menschenrechten auf, hier sind wir als politische Bürgerinnen und Bürger gefordert.

Ein guter Marktpreis hängt in der Regel auch von der Qualität ab – stimmt dies auch für die Kakaobranche?
Das ist eine Frage der Perspektive und stimmt meines Erachtens nur sehr bedingt für 95 Prozent der Kakaobranche. Der Marktpreis hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Preispolitik des Anbaulandes, dem Weltmarktpreis, den Börsengeschäften, der Vorratshaltung, des Wetters, von Krankheiten, vom Preis für Dünger und Pestiziden, vom weltweiten Angebot, von der Nachfrage, des Hedgings, der Informationspolitik oder der direkten Zusammenarbeit mit Kakao einkaufenden Firmen. Die Qualität spielt beim Industriekakao für die Preisbildung praktisch keine Rolle. Die Qualität wäre allerdings das einzige, das die Bauernfamilien theoretisch beeinflussen könnten.

Fehlen demnach die konkrete Nachfrage und die finanziellen Anreize dafür?
Ja. Die nötigen Investitionen, um die Qualität zu steigern, sind für die Anbauenden meistens unverhältnismässig hoch. Hinzukommt die Frage, wozu denn eine bessere Qualität nötig ist? Der Industriekakao wird in einem hohen Masse verarbeitet und mit Zucker, Milchpulver und Zusatzstoffen versetzt, sodass die Kakaoqualität am Ende des Tages keine erhebliche Rolle mehr spielt. Etwas verkürzt ausgedrückt, ist die Technologie zudem so weit entwickelt, dass sie die meisten Mängel, die aus falscher Fermentierung, Schimmelbildung, Befall oder Verunreinigung entstehen, aus gesundheitlicher Sicht beheben kann. Daraus ergibt sich für mich eine weitere wichtige Frage: Welcher Preis darf denn die niedrigste Kakao-Qualität haben, die von der Industrie akzeptiert und gekauft wird? Grundsätzlich bräuchten die Kakaobauernfamilien ein Einkommen, das ihre Existenz sichern kann. Diverse Studien (vgl. Infobox) zeigen, dass die Einkommen und damit die Kakaopreise sich damit verdreifachen müssten. Alleine mit der Steigerung der Qualität ist das nicht zu erreichen.

Welche sozial vorbildlichen Ansätze können über die Nische hinaus Wirkung erzielen?
Die Transparenz in der Preisbildung muss verbessert werden, es sollen fairere Preise und existenzsichernde Einkommen definiert werden, der menschenrechtliche Ansatz soll als Grundlage verankert sein, der Agrarsektor in den Anbauländern muss gestärkt werden, die Markt- und Machtkonzentration sollte unter Beobachtung bleiben, der Nischenmarkt mit seinen innovativen Ideen soll eine Referenz sein, um Konzepte übernehmen und anpassen zu können. Ein wenig pauschal ausgedrückt, kann die Produktion von guter Schokolade mit weniger Zucker dafür besserem Qualitätskakao vermehrt zu höheren Einkommen für die Kakaoanbauenden, grösserer Aufmerksamkeit für die Biodiversität, mehr Schokoladegenuss, weniger Schokoladekonsum und dadurch zu weniger Abholzung führen – die meisten Menschen essen weniger von der dunklen Schokolade als von schokoladehaltigen Süsswaren.

Gibt es neuere technologische Entwicklungen von «bean to bar», welche solche Innovationen ermöglichen bzw. erleichtern?
Ja, im Kakaoanbau gibt es sehr viele innovative und technologische Entwicklungen, die einen nachhaltigen Anbau fördern. So gibt es beispielsweise Cloud-basierte Systeme, die jede Kakao-Transaktion festhalten und die Rückverfolgbarkeit stark vereinfachen oder den brandneuen Zugang zu Satelliten-Daten und -Technologien, um die illegale Abholzung für Kakaoanbau zu monitoren, zudem ist die Blockchain-Technologie in aller Munde. Wie aber gelangt die Technologie an die Adresse der Menschen, die sie brauchen könnten? Und wurden die Kakaoanbauenden gefragt, ob sie genau das am dringendsten brauchen, frage ich mich als Sozialanthropologin. Die kulturelle und soziale Einbettung von Innovationen und neuen Technologien ist meines Erachtens die grösste Herausforderung.

Als Innovationschance für die Schokolade sehen Sie die «Umkehrung des Fortschritts». Wie ist dies zu verstehen?
Statt auf industrieller Ebene noch mehr zu technologisieren, gehen wir zurück zur handwerklichen Schokoladeproduktion. Genau dafür kommen im Moment vermehrt Maschinen auf den Markt, die sich eignen für die Produktion von Craft Chocolate, Fine Chocolate, Artisanal Chocolate oder eben Bean to Bar Chocolate. Das erlaubt es auf der ganzen Welt Hunderten von kleinen Unternehmen und Individuen, Craft Chocolate herzustellen. Durch die Arbeit mit kleinen Kakao-Chargen können die Herstellerinnen Geschmacksvariationen und -nuancen viel detaillierter erforschen als Industrieproduzenten, welche Schokoladeprodukte herstellen müssen, die immer genau gleich schmecken. Sie können auch direkt mit den Konsumierenden interagieren, die sich aus erster Hand über die Schokoladenherstellung und die Beschaffung von Bohnen informieren können.

Hintergrundinfos Handelsabkommen und Regulierungen
Studie von Fair-trade International (2018) True price – www.trueprice.org