«Digitale Petrischale» – modellbasierte virtuelle Tools ergänzen die klassische Laboranalytik. COLOURBOX.DE, 2020

Automatisierte Modellierung der mikrobiologischen Sicherheit von Rezepturen

Publiziert

Die mikrobiologische Sicherheit steht bei der Entwicklung neuer Produkte im Vordergrund. Neue datengetriebene Berechnungsmodelle ermöglichen es, dies bereits während des Designprozesses zu gewährleisten. Das vorgestellte Praxisbeispiel basiert auf der von Co-Autor Marco Brunschwiler erstellten Bachelor-Diplomarbeit.

Die neuen Trends in der Lebensmittelindustrie verlangen immer mehr Natürlichkeit, weniger Zucker und trotzdem eine längere Haltbarkeit. Um diesen kontinuierlich zunehmenden Anforderungen gerecht zu werden, wurde eine neue datengetriebene Modellierung entwickelt.

In der Produktentwicklung bezieht man sich heute auf erfahrungsbasierte Konzepte, wobei die meisten Firmen über Datenbanken mit Informationen zu Rezepturen und Rohstoffen verfügen dürften. Diese Daten können dazu genutzt werden, mit automatisierten Berechnungsmodellen quantitative Aussagen über die mikrobiologische Sicherheit eines neuen Produkts zu machen. Mit dieser neuen Unterstützung können die Entwickler*innen fundiertere Entscheidungen fällen und somit Kundenwünsche sowie die Richtlinien der Lebensmittelsicherheit besser umsetzen.

Im Rahmen einer Bachelorarbeit am Departement für Life Sciences und Facility Management der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wurde in Zusammenarbeit mit der Firma Frutarom Schweiz AG in Reinach eine auf Microsoft Excel basierte Modellierung zur Überprüfung der mikrobiologischen Sicherheit von Rezepturen entwickelt.

Modellierung
Bei der Modellierung wurden prinzipiell drei Schritte berücksichtigt, die das Lebensmittel während der Produktion durchläuft: Die Keimreduktion während des Erhitzungsprozesses, das Keimwachstum bei der Lagerung und die chemisch-physikalischen Eigenschaften des Endprodukts vom Kunden in der Lebensmittelindustrie (vgl. Grafik).

Die Berechnung der Keimreduktion basiert auf den dezimalen Reduktionszeiten, sogenannten «D-Werten» und den «z-Werten», mit denen die Hitzebeständigkeit von Mikroorganismen erfasst wird. Als Grundlage dienen die entsprechenden Richtwerte aus der Fachliteratur. Diese fliessen in den «F-Wert» ein, der die Summe der letalen Werte angibt, welche durch die Erhitzungsschritte auf verschiedene Mikroorganismen wirken. Die Gefahr eines Keimwachstums bei der Lagerung wird durch ein Hürdenprinzip über die pH- und aW-Werte des Endprodukts sowie die Lagertemperatur ermittelt. Dasselbe Prinzip wird für die Gefahr eines Keimwachstums im Produkt des weiterverarbeitenden Kunden angewendet. Über eine Analyse der Rohstoffe wird ausserdem anzeigt, ob das Endprodukt Allergene enthält und ob es einen Konflikt mit Label-Konformitäten geben könnte. Dies hilft den Produktentwickler/innen dabei, gleich sicherzustellen, dass das Produkt die Anforderungen erfüllen kann oder ob gegebenenfalls ein Rohstoff ausgetauscht werden muss.

Daten und die Herausforderungen bei deren Beschaffung
Die für das Modell benötigten Daten wurden zusammen mit Frutarom Schweiz identifiziert. Um die Informationen zur Rezeptur und den Rohstoffen aus dem ERP-System zu beziehen und automatisiert zu analysieren, wurden spezifische Filter, Regeln und Konsistenzbedingungen definiert und implementiert. Da allerdings nicht alle Daten direkt im ERP-System oder in öffentlichen Datenbanken zur Verfügung stehen, wurde punktuell entschieden, wie mit den fehlenden Daten zu verfahren ist. Beispielsweise sind Daten zur Anfangskeimbelastung von Rohstoffen nicht oder nur teilweise vorhanden. Die Keimbelastung der Rohstoffpositionen einer Rezeptur werden nun im Tool über den Abgleich mit Rohstoffgruppen festgelegt und anhand der Dosierung der einzelnen Rohstoffe hochgerechnet.

Die Datenbeschaffung stellt eine der grössten Herausforderungen bei der Entwicklung solcher Tools dar. Auch wenn bereits vieles vorhanden ist, wurde die Rezeptur- und Rohstoff-Datenbank ursprünglich nicht mit dem Ziel entwickelt, alle Informationen zur mikrobiologischen Sicherheit zu hinterlegen. Dies kann die Datenauswertung zusätzlich erschweren. Beispielsweise wurde bei der Programmierung versucht, die Erhitzungsschritte und die dazugehörigen Zeiten und Temperaturen automatisiert einzulesen. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings vorerst daran, dass bis anhin die Einträge zu den genannten Parametern im ERP-System nicht nach einheitlichen Regeln vorgenommen wurden.

Erste Schritte in Richtung modellbasierter Qualitätssicherung
Die enge Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber ermöglichte die Fertigstellung einer ersten funktionstauglichen Version des Tools. Die Berechnung der Endkeimzahlen erfolgt automatisiert, und die Effektivität der Erhitzungsschritte kann beurteilt werden. Einzelne Parameter, beispielsweise der pH- oder aW-Wert, können direkt im Tool angepasst werden, und deren Einfluss auf die Gefahr eines Keimwachstums wird sofort berechnet und sichtbar. Eine Liste der in den Rohstoffen enthaltenen Allergenen und die Label-Konformität einzelner Rohstoffe sind für die Entwickler*innen auf einen Blick ersichtlich.

Auf der Grundlage der hier vorgestellten Ergebnisse könnten weiterführende Untersuchungen zur Erweiterung des Modells durchgeführt werden. Um die Vorhersagen wesentlich verbessern zu können, wären allerdings umfangreichere Daten zu Keimwachstum und Anfangskeimzahlen (je Rohstoff und Lieferant) notwendig. Zwar existieren bereits offene Datenbanken zum Keimwachstum, beispielsweise «Combase» (www.combase.cc), allerdings werden dort aktuell vor allem wissenschaftliche Resultate geteilt und weniger direkt praxisbezogene Daten.

Eine wesentliche Innovation für die Produktentwickler*innen wäre, das bestehende Tool um eine Sensitivitätsanalyse zu erweitern. Dabei handelt es sich um eine Methodik, mit der die Empfindlichkeit von Kennzahlen bezüglich Parameter-Änderungen vorhergesagt werden kann. Dadurch würde man modellbasierte Vorschläge zur Gewährleistung der Sicherheit eines Produkts erhalten, ohne dabei die Eigenschaften negativ zu beeinflussen. Die Produktentwickler*innen würden damit aktiv dabei unterstützt, sichere und qualitativ hochstehende Produkte zu entwickeln.

Grafik: Schematische Darstellung der modellierten Prozessschritte, ZHAW WÄDENSWIL

www.zhaw.ch/de/lsfm/institute-zentren/ias/www.zhaw.ch/de/lsfm/institute-zentren/

Marco Brunschwiler, wissenschaftlicher Assistent
Dr. Lukas Hollenstein, Dozent und Fachstellenleiter – Fachstelle Simulation & Optimization der ZHAW Life Sciences und Facility Management
Julia Müller, Verantwortliche für Produktsicherheit, Stammdatenpflege, Lebensmittelrecht – Frutarom Schweiz AG